Peter Bossen:


"An das Datum kann ich mich nicht mehr genau erinnern (es muss so 1971 oder 72 gewesen sein und ich war 18 oder 19), aber an den Ort: es waren die Winterhuder Lichtspiele in Hamburg, aus denen kurz danach das Magazin-Kino wurde. Meine Kino-Erfahrungen hatten sich bis dahin bevorzugt auf Karl-May-Filme (als Kind), später auf Italo-Western und Bud Spencer/Terence Hill-Streifen beschränkt, bis ich an besagtem Tag Stanley Kubricks A CLOCKWORK ORANGE sah. Warum ich mir den Film überhaupt angesehen habe, weiß ich nicht mehr (vielleicht wegen des eigenartigen Titels), ich weiß nur, dass meine Kino-Welt danach eine andere war.

Dabei spielt die Story, wie so häufig bei Kubrick, eine eher untergeordnete Rolle und kann mit wenigen dürren Worten erzählt werden: jugendlicher Delinquent einer futuristischen Rocker-Gang mutiert mit den Mitteln der modernen Psychologie zu einem Rädchen im Getriebe des gesellschaftlichen Mainstreams, kann am Ende aber zu seinem anarchisch-individuellen Lebensstil zurückkehren. Daraus macht der Film allerdings kein sozialpädagogisches Lehrstück, sondern eine zynische und bitterböse Satire. Beeindruckend sind die Mittel, mit denen Kubrick diese Geschichte erzählt, ein Rausch aus Bildern und Musik. Die Zukunft, die wir inzwischen längst hinter uns gelassen haben, sieht bei Kubrick aus wie eine überdrehte Version des poppigen 'Swinging London' aus den 60er Jahren. Bei der Musik, zu der auch die bei Kubrick fast obligatorischen Klassik-Stücke gehören, beeindrucken vor allem die eindringlichen Synthesizer-Klänge von Walter Carlos. Manchmal schaue ich mir heute noch nur den Anfang des Films an und kriege von der Musik eine Gänsehaut.

Und dann dieser Hauptdarsteller! Der damals unbekannte Malcolm McDowell war in seiner Rolle des abscheulichen Ober-Fieslings und Opportunisten, den man einfach gern haben muss, nie wieder so genial (außer vielleicht in seiner etwas ähnlich gelagerten Rolle in OH LUCKY MAN).

Der Film ist oft kritisiert worden, weil er Gewalt ästhetisiere. In der Tat werden Schlägereien wie Ballette inszeniert und eine brutale Vergewaltigung wie eine Musical-Szene und dazu erklingt 'Singing in the Rain'. Heute würde man wohl den direkten Weg wählen und die Gewaltdarstellungen realistisch gestalten, aber vor 35 Jahren war dies eben nur mit den Mitteln der Verfremdung möglich. Trotzdem sollte man darauf verzichten, den Film möglicherweise mit der Dame seines Herzens anzusehen. Meine Begeisterung dafür hat bei einigen Angebeteten eher Verstörung hervorgerufen und mich so manchen romantischen Moment gekostet. Jedenfalls habe ich es auch in 25 Beziehungsjahren bisher nicht gewagt, den Film meiner Frau vorzuführen.

Was geblieben ist, ist eine lebenslange Begeisterung für das Kino, das dann doch mehr sein konnte, als VIER FÄUSTE FÜR EIN HALLELUJA und DIE RECHTE UND DIE LINKE HAND DES TEUFELS."


A CLOCKWORK ORANGE wurde 1971 gedreht, nach einem Roman von Anthony Burgess von 1962. 1990 schrieb Burgess über die Verfilmung: "Es gab Mitte der Sechziger einen Versuch, 'A Clockwork Orange' auf die Leinwand zu bringen, mit einer Gesangsgruppe, die unter dem Namen The Rolling Stones bekannt war und das gewalttätige Quartett spielen sollte, angeführt von dem Helden Alex, eine Rolle die für Mick Jagger gedacht war. Ich verehrte die Intelligenz, wenn nicht gar die Kunst dieses jungen Mannes und fand, er sehe aus wie die Quintessenz von Delinquenz. Die Filmrechte wurden für einen sehr kleinen Betrag an eine kleine Produktionsfirma verkauft, deren Kopf ein kalifornischer Anwalt war. Sollte der Film überhaupt realisiert werden, hätte das nur in einer ökonomischen Form sein können, die Aufführungen ausschließlich vor geschlossenen Gesellschaften erlaubt: Die Zeiten waren nicht reif für die Vorführung von Vergewaltigung und fortgesetztem Chaos vor anständigem Familienpublikum. Als die Zeiten dann reif waren, wurden die Filmrechte weiterverkauft an Warner Brothers für eine sehr große Summe: Ich habe nichts davon gehabt ..."
Vielleicht waren die Zeiten doch noch nicht ganz reif: Nach Pressegetöse in Großbritannien um angebliche Nachahmungstäter ließ Kubrick den Film 1973 aus dem Verleih nehmen. Erst 1999, nach seinem Tod, konnte er in Großbritannien wieder aufgeführt werden.

Wer
A CLOCKWORK ORANGE noch einmal oder gar zum ersten Mal oder zum ersten Mal mit Originalton oder aber zum ersten Mal mit seiner Frau oder sonstigem Partner anschauen will, hat diese Woche in Hamburg sogar im Kino Gelegenheit dazu: Das 3001 zeigt den Film von Donnerstag bis Sonntag in der Spätvorstellung. Auf DVD ist er derzeit in sage und schreibe fünf verschiedenen Ausgaben allein auf dem deutschen Markt zu haben, außerdem sind Blu-Ray- und HD-DVD-Ausgaben erschienen.




Peter Bossen macht uns hier das Leben in der Kinoprovinz erträglich, stellt er uns doch einen riesigen Filmschatz zur Verfügung, der die Armseligkeit des Kinoangebots in Hamburg ein wenig ausgleicht. Er hat seit 1993 eine gigantische und fantastisch sortierte öffentliche Film- und Videobibliothek aufgebaut und leitet sie auch noch heute.

Erst wurde sie als eigenständige Bibliothek in den Zeisehallen (Fotos) betrieben; heute ist sie eine Abteilung der Zentralbibliothek. Im Bestand sind über 10.000 DVDs und noch 3500 Videos; die genaue Zahl der Titel ist nicht erfasst, dürfte aber nur geringfügig kleiner sein, da fast ausschließlich Einzeltitel angeschafft werden.

Beim Besuch der Räume am Hühnerposten gewinnt man nicht wirklich einen Eindruck von der Fülle des Angebots, denn durchschnittlich stehen nur ca. 20% des Bestandes in den Regalen, der Rest ist entliehen oder unterwegs. Als Teil der Hamburger Öffentlichen Bücherhallen mit Standorten überall in der Stadt und einem gemeinsamen Katalog werden vorbestellte DVDs ständig von Nutzern gegen ein Entgelt von jeweils 1,50 EUR zur Bücherhalle um die Ecke bestellt. Die Ausleihzeit beträgt eine Woche, liegen keine weiteren Vormerkungen vor, lässt sie sich noch zweimal verlängern. Paradiesische Zustände für alle, die wissen, was sie wollen: Online im Katalog Film und Abholort anklicken und warten, bis einem per Post oder Mail mitgeteilt wird, dass das Medium eingetroffen ist und dann in aller Ruhe den Film angucken, wenn's einem passt; geht das noch besser?

Im Bestand ist alle gängige Film- und Serienkost (für Box-Sets werden übrigens auch nur jeweils 1,50 EUR Vormerkgebühr fällig), die auf dem deutschen Markt erscheint, bis auf Komplettschrott und Slasherflicks, versteht sich.

Darüber hinaus sind aber auch unfassbare Mengen von DVDs im Bestand, die irgendwo anders auf der Welt veröffentlicht wurden und die hierzulande sonst nirgendwo verfügbar sind. Takeshi Kitanos Filme standen schon als VHS-Kassetten aus Japan und Großbritannien in den Zeisehallen im Regal, Jahre bevor das erste Mal ein Film von ihm in unseren Kinos auftauchte. Jetzt ist alles wieder vorbei; die letzten drei Filme Kitanos haben wieder keinen Verleih mehr gefunden bei uns. Nicht so schlimm: Auf Peter Bossen und sein Team ist Verlass. Und wenn wirklich einmal etwas Interessantes nicht im Katalog steht, kann man hier seinen Anschaffungswunsch äußern, und wenn der Vorschlag nicht völlig abwegig ist, steht der gewünschte Film bald zur Ausleihe bereit.

In den Zeisehallen war das Prozedere noch viel sympathischer: Da lag immer das große Buch, in das die Nutzer handschriftlich ihre Wünsche eintrugen. Alle paar Wochen hat sich Peter Bossen dann hingesetzt und ist es geduldig Eintrag für Eintrag durchgegangen und hat alles, wirklich alles beantwortet ("haben wir schon", "wollen wir nicht", "nicht auf DVD veröffentlicht", wird angeschafft!")
Das Angebot privater Videotheken – es sei denn sie sind so ambitioniert wie das Videodrom (sowas haben wir in Hamburg aber ohnehin nicht) - kann da nicht mithalten, unter anderem auch, weil das nicht unerhebliche Angebot an reinen Kauf-DVDs für sie unerreichbar ist.

Und wie ist das in Berlin, wo doch immer alles besser ist? Der Bestand an Filmmedien in der dortigen "Amerika-Gedenkbibliothek" ist noch größer, 25.000 DVDs sollen es sein; jedoch werden da auch sämtliche so genannten Sachfilme (Reisevideos, Sprachlehrfilme etc.) eingerechnet, und es soll viel häufiger mehrere Exemplare pro Titel geben. Die Verfügbarkeit dürfte angesichts der größeren Einwohnerzahl entsprechend geringer sein. Die Onlinesuche im Katalog gestaltet sich vergleichsweise mühselig. So mühselig, dass ich aufgegeben habe, im Wust der Suchergebnisse ein paar Stichproben für einen Bestandsvergleich zu machen.

Peter Bossen: "Eine andere öffentlich zugängliche Bibliothek mit dem Schwerpunkt Film und einem Medienbestand, der unserem in Quantität und Qualität gleich kommt, ist mir nicht bekannt." Und zwar auch nicht international. "Ein amerikanischer Kunde hat uns einmal gesagt: 'I wish, we had a place like this in San Francisco'. Da waren wir schon ein bisschen stolz."


Und ein Film, den wir glücklicherweise nicht gesehen haben:

Für Malcolm McDowell war Alex die Rolle seines Lebens. Der Mann hat später in unzähligen mittelmäßigen bis schlechten Filmen gespielt und offenbar auch so ziemlich jede Nebenrolle in Fernsehproduktionen angenommen, die ihm angeboten wurde. Die eine Ausnahme hat Peter Bossen oben schon erwähnt. Seinen größten und prestigeträchtigsten Auftritt seit Jahrzehnten hatte er vor zwei Jahren im HALLOWEEN-Remake. Im unvermeidlichen Sequel des Remakes wird er auch wieder dabei sein.
GARDEN OF EVIL aka THE GARDENER aka SILENT SCREAMS aka DIE BLUMEN DES BÖSEN scheint ein besonders tief liegender Punkt in McDowells qualitativer Tiefebene zu sein: Er spielt einen Mann, der schöne Frauen umbringt, um aus ihren Leichen schöne Pflanzen zu machen. "Völlig humorlos, schlecht gespielt und miserabel inszeniert", urteilt das Filmlexikon.